Tarifkonflikt: Verdi spricht von einem „kraftvollen Warnstreik“ – und präsentiert Zahlen zum Reallohnverlust

1.7.2025 – Mit einem bundesweiten Streiktag hat Verdi am Donnerstag den Druck auf die Arbeitgeber erhöht. In der laufenden Tarifrunde für den Versicherungsinnendienst liegen die Positionen weiterhin weit auseinander. Eine Modellrechnung der Gewerkschaft soll nun verdeutlichen, warum das aktuelle Angebot des AGV weiterhin abgelehnt wird.

Am 4. Juli gehen die Tarifverhandlungen für den Versicherungsinnendienst in die vierte Runde. Für rund 183.000 Beschäftigte ist es ein entscheidender Termin: Es ist die letztmögliche Verhandlungsrunde vor dem Herbst – und der alte Vertrag ist bereits seit März ausgelaufen (VersicherungsJournal 18.6.2025).

Verdi zählt 9.000 Streikende

Um den Druck auf die Arbeitgeber noch einmal zu erhöhen, hatte die Ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft am vergangenen Donnerstag, den 26. Juni, zu einem bundesweiten Streik aufgerufen.

Gestreikt wurde an allen großen Versicherungsstandorten – darunter München, Berlin, Hannover und Frankfurt am Main. Nach Schätzungen der Gewerkschaft nahmen bundesweit 9.000 Personen an den Außenständen teil.

In Köln, Düsseldorf, Münster und Dortmund beteiligten sich laut Verdi-Landesbezirk Nordrhein-Westfalen rund 1.900 Personen an Demonstrationen. In Hamburg waren es nach Angaben des Landesverbands rund 700, in Hannover 600. Wie schon bei früheren Aktionen, beteiligten sich auch Beschäftigte im Homeoffice – deren Zahl lässt sich jedoch nicht genau beziffern.

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Verdi wertet den Streik als Erfolg

Auf der Kampagnenseite „Soll es so bleiben?“ wertet Verdi den Streik als Erfolg. „Unser kraftvoller Warnstreik hat gezeigt, wie groß der Unmut ist – und wie groß die Bereitschaft, für ein gutes Tarifergebnis einzustehen“.

Unser kraftvoller Warnstreik hat gezeigt, wie groß der Unmut ist. Deshalb war der 26. Juni mehr als nur ein Streiktag.

Verdi

„Deshalb war der 26. Juni mehr als nur ein Streiktag. Es war ein eindeutiges Signal an die Arbeitgeber: Wir sind bereit, uns für unsere berechtigten Forderungen einzusetzen. Und wir sind viele!“, schreibt die Gewerkschaft.

AGV beobachtet erneut keine Einschränkung des Geschäftsbetriebs

Sebastian Hopfner (Bild: AGV)
Sebastian Hopfner (Bild: AGV)

Nach Darstellung des Arbeitgeberverbands der Versicherungsunternehmen in Deutschland e.V. (AGV) verlief der Geschäftsbetrieb trotz des bundesweiten Streiks weitgehend störungsfrei. Das berichtet Dr. Sebastian Hopfner, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Verbands, dem VersicherungsJournal.

„Sehr viele Unternehmen berichten uns, dass es dort überhaupt keine Beteiligung am Streik gab. Hinzu kommt: Häufig beschränken sich die Aktionen auf wenige Stunden, teils auch auf die Mittagspausen. Teilweise wird – zwecks Vermeidung von Lohnverlust – bei Streik die flexible Arbeitszeit genutzt und ausgestempelt“, so Hopfner.

Die Situation sei von Standort zu Standort sehr unterschiedlich, eine pauschale Bewertung daher nicht angebracht: „Die Welt ist hier sehr bunt“, sagt der Verbandsfunktionär. Zahlen zur Streikbeteiligung erhebt der AGV eigenen Angaben zufolge nicht – die von Verdi kommunizierten Angaben könne man daher nicht bestätigen und genieße diese mit Vorsicht.

Factsheet soll Reallohnverluste belegen

Die Gewerkschaft fordert weiterhin eine Gehaltserhöhung von zwölf Prozent innerhalb eines Jahres. Das Arbeitgeberangebot aus der dritten Verhandlungsrunde sieht dagegen 8,1 Prozent verteilt auf 28 Monate vor.

Sollte das bisherige Arbeitgeberangebot aus der dritten Verhandlungsrunde angenommen werden, würden die Beschäftigten laut Verdi im Jahr 2027 real vier Prozent weniger verdienen als fünf Jahre zuvor. Der Arbeitgeberverband widerspricht und verweist auf Einmalzahlungen, die einen Teil der Inflation abgefedert hätten (28.5.2025).

Die Beschäftigten in der privaten Versicherungswirtschaft werden von der gesamtwirtschaftlichen Lohnentwicklung abgekoppelt.

Verdi

Verdi präsentiert Factsheet mit Modellrechnung

Zur Untermauerung ihrer Position legt Verdi ein Factsheet mit einer Modellrechnung vor. Demnach ergibt sich für die Jahre 2021 bis 2024 ein kumulativer Reallohnverlust von 8,1 Prozent – bezogen auf die nominalen Tarifsteigerungen im selben Zeitraum.

Reallohnentwicklung Versicherungsinnendienst 2021 bis 2024 laut Verdi

Jahr

Inflation*

Tariferhöhung*

Reallohnentwicklung*

2021

3,1

2,0

-1,1

2022

6,9

3,0

-3,9

2023

5,9

2,0

-3,9

2024

2,2

3,0

+0,8

„Zwei tarifliche Einmalzahlungen und die Zahlung einer Inflationsausgleichsprämie von insgesamt 2.000 Euro (1.000 Euro im Jahr 2023 und 1.000 Euro in 2024) ändern nichts an diesem Reallohnverlust, sondern haben lediglich im Jahr der Zahlung zu einer Abmilderung der Inflationsverluste geführt, aber auch nicht zu einem Inflationsausgleich im entsprechenden Jahr“, schreibt Verdi.

Reallohnverlust auf angedachte Lohnerhöhung umgerechnet

Trotz der angebotenen Gehaltssteigerungen sieht Verdi bis 2027 keinen vollständigen Ausgleich der Reallohnverluste. Zwar würden die Einbußen aus den Jahren 2021 bis 2023 damit weitgehend kompensiert, doch für 2025 und 2026 rechnet die Gewerkschaft mit einer faktischen Nullrunde.

Verdeutlicht wird das in einer Modellrechnung anhand der Tarifgruppe 5 im letzten Berufsjahr – einer typischen Eingruppierung für Beschäftigte in der Sachbearbeitung. Eingerechnet sind auch die geplanten Tarifsteigerungen von 4,8 Prozent ab August 2025 und 3,3 Prozent ab September 2026.

Demnach würde das Bruttojahresgehalt in dieser Gruppe von rund 55.250 Euro im Jahr 2022 auf etwa 62.430 Euro im Jahr 2026 steigen – ein nomineller Zuwachs von knapp 13 Prozent. Allein in den Jahren 2025 und 2026 läge die Steigerung bei insgesamt 8,1 Prozent.

Nach Einschätzung von Verdi reicht das jedoch nicht aus, um auch die Inflation der kommenden Jahre auszugleichen. Bei einer angenommenen Teuerung von jeweils rund zwei Prozent bliebe das Realeinkommen im Jahr 2027 weiterhin rund vier Prozent unter dem Niveau von 2020.

Entwicklung Bruttojahresgehalt Versicherungsinnendienst mit Arbeitgeberangebot*

Jahr

Tariferhöhung

Jahresgehalt*

Steigerung zu Vorjahr absolut*

Steigerung zu Vorjahr prozentual**

Inflation**

2022

Sonderzahlung 550 Euro, 3% Tariferhöhung ab 09/2022

55.254

1.577

2,9

6,9

2023

Sonderzahlung 500 Euro, 1.000 Euro Inflationsausgleich, 2 % Tariferhöhung ab 09/2023

57.644

2.390

4,3

5,9

2024

1.000 Euro Inflationsausgleich, 3 % Tariferhöhung ab 09/2024

58.472

828

1,4

2,2

2025

4,8 % Tariferhöhung ab 08/2025

59.783

1.311

2,24

2,2

2026

3,3 % Tariferhöhung ab 09/2026

62.427

2.644

4,42

2,2

Hinkt die Versicherungswirtschaft anderen Branchen hinterher?

Die Gewerkschaft kritisiert: „Bei der Betrachtung der Entwicklung der Bruttojahresgehälter würden in dem Beispiel die Jahresgehälter nach fünf Jahren Reallohnverlust erstmals wieder im Jahr 2026 über der Preissteigerung liegen. Die Beschäftigten in der privaten Versicherungswirtschaft werden damit von der gesamtwirtschaftlichen Lohnentwicklung abgekoppelt“.

Verdi verweist darauf, dass in vielen anderen Branchen die Reallohnverluste der vergangenen Jahre bereits durch kräftige Tarifabschlüsse in den Jahren 2023 und 2024 ausgeglichen wurden. Das gehe aus dem Tarifpolitischen Jahresbericht 2024 hervor, den das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) vorgelegt hat.

Für das Jahr 2024 ergibt sich laut Verdi auf Basis des WSI-Berichts eine durchschnittliche Steigerung der Bruttojahresgehälter über alle Branchen hinweg um 5,4 Prozent. In der Versicherungsbranche seien die Gehälter dagegen nur um rund 1,4 Prozent gestiegen – und lägen damit im Branchenvergleich auf dem vorletzten Platz.

Tarifverträge haben nicht die ausschließliche Aufgabe, etwaig eingetretene Kaufkraftverluste auszugleichen.

Sebastian Hopfner, AGV

AGV argumentiert mit Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen

Der AGV gesteht auf Nachfrage ein, dass das aktuelle Tarifangebot tatsächlich Reallohnverluste für die Beschäftigten bedeuten könne. „Uns sind die Berechnungen von Verdi bekannt. Wir können diese auch nachvollziehen. Tarifverträge haben jedoch nicht die ausschließliche Aufgabe, etwaig eingetretene Kaufkraftverluste auszugleichen“, positioniert sich Sebastian Hopfner.

„Vielmehr haben die Tarifvertragsparteien die verantwortungsvolle Aufgabe, sämtliche für Lohnerhöhungen relevante Aspekte zu berücksichtigen und die Interessen der Angestellten mit denen der Unternehmen in einen Ausgleich zu bringen“, argumentiert Hopfner weiter.

Die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen müsse erhalten bleiben und Arbeitsplätze dürften durch Gehaltsabschlüsse nicht gefährdet werden, warnt der Fachanwalt. In gesamtwirtschaftlichen Sondersituationen könne es demnach vorkommen, dass Tarifverträge nicht auf einmal den gesamten Kaufkraftverlust ausgleichen.

Der Arbeitgeberverband hatte bereits darauf hingewiesen, dass steigende Schadenkosten sowie hohe Investitionen in die digitale Infrastruktur die finanzielle Situation der Versicherer deutlich belasten – und dass die Lage daher schwieriger sei, als Verdi es darstelle.

Wenden Versicherer Tarifvertrag großzügig an?

„Die Behauptungen von Verdi berücksichtigen zudem nicht die im Tarifvertrag durch die Berufsjahresstaffelungen enthaltenen ‚automatischen‘ Lohnerhöhungen. Auch bleibt unberücksichtigt, dass nicht wenige Angestellte höhergruppiert werden. Generell ist es so, dass viele Unternehmen den Tarifvertrag in Bezug auf die Eingruppierung sehr großzügig anwenden“, kritisiert Hopfner.

„Berufsjahresstaffelungen“ im Tarifvertrag sind automatische Gehaltserhöhungen, die Beschäftigten mit zunehmender Betriebs- oder Berufserfahrung zustehen – unabhängig von allgemeinen Tarifsteigerungen. Das heißt, je länger jemand im Unternehmen oder in einer bestimmten Tätigkeit arbeitet, desto höher steigt sein Gehalt nach festen Staffelungen.

Zusätzlich weist Hopfner in seinem Statement darauf hin, dass viele Beschäftigte im Laufe der Zeit auch in eine höhere Tarifgruppe aufsteigen können, was meist mit höheren Gehältern verbunden ist. Demnach würden Mitarbeiter schneller oder öfter höher eingestuft, als es strikt vorgeschrieben ist. Eine Garantie hierfür gibt es allerdings nicht.

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