27.5.2025 – Das Oberlandesgericht Hamm hat einen Versicherer zur Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente verpflichtet, obwohl der Versicherungsnehmer im Antrag eine Vorerkrankung und sogar eine 30-prozentige Behinderung nicht angegeben hatte. Das Verschweigen einer solchen Krankheit bedeute keine Arglist, wenn der Versicherer nicht explizit danach fragt.
Ein Mann hatte im April 2010 eine Berufsunfähigkeitsversicherung (BU-Versicherung) über eine Monatsrente von 1.500 Euro abgeschlossen. Im Antragsformular kreuzte er zwei Gesundheitsfragen mit „nein“ an, die im Mittelpunkt des Rechtsstreits standen. Dies waren:
- B4.2: „Sind Sie in den letzten 5 Jahren untersucht, beraten oder behandelt worden hinsichtlich: Atmungsorgane (z. B. wiederholte oder chronische Bronchitis, Asthma)?”
- B4.9: „[…] Wirbelsäule, Sehnen, Bänder, Muskeln, Knochen oder Gelenke (z. B. Rückenerkrankungen, Arthrose, Rheuma)?”
Wechselhafte Berufskarriere
Die berufliche Laufbahn des Mannes verlief über viele Jahre wechselhaft. Von 2005 bis April 2013 war er selbstständig und verkaufte Döner und andere Speisen aus einem Imbisswagen. Aus gesundheitlichen und wirtschaftlichen Gründen musste er diese Tätigkeit aufgeben – unter anderem, weil Rückenbeschwerden ein langes Stehen erschwerten.
Anschließend fand der Versicherte eine Anstellung bei einem Hersteller von Dönerspießen. Hier verrichtete er körperlich schwere Arbeiten. Sie führten dazu, dass sich sein Rückenleiden weiter verschlechterte. Nach mehreren erfolglosen Behandlungen wurde er im Frühjahr 2014 als arbeitsunfähig eingestuft und stellte einen Antrag auf Berufsunfähigkeitsrente bei seinem Versicherer.
Trotzdem versuchte der Betroffene, wieder Fuß im Berufsleben zu fassen. Doch eine kurzzeitig ausgeübte Tätigkeit als Taxifahrer musste er wegen einer Krebserkrankung, die eine langwierige Therapie erforderte, aufgeben. Dennoch absolvierte der Mann erfolgreich eine Umschulung und arbeitete ab 2019 bei der Stadt – zunächst bei der Stadtkasse, später als Flüchtlingshelfer.
Versicherer verweigert Leistung wegen arglistiger Täuschung
Der BU-Versicherer lehnte die Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente ab und machte eine Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht geltend. Demnach habe der Versicherungsnehmer arglistig getäuscht, indem er falsche Angaben bei der Beantwortung der Gesundheitsfragen gemacht habe. Die Assekuranz erklärte den Rücktritt vom Versicherungsvertrag.
Der Versicherer behauptet, der Mann habe eine sogenannte Skoliose verschwiegen. Diese wurde 2004 festgestellt und führte zu einer 30-prozentigen Behinderung des Antragstellers. Dabei handelt es sich um eine seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule, bei der die Wirbelkörper zusätzlich zur Seite verschoben und verdreht sind.
Außerdem habe der Betroffene verschwiegen, dass er im Jahr 2006 wegen einer schmerzhaften Bronchitis den Hausarzt aufgesucht hat.
OLG Hamm sieht keine Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht
- Tobias Strübing (Bild: Wirth Rechtsanwälte)
Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm entschied mit Urteil vom 4. April 2025 (20 U 33/21), dass der Mann die Gesundheitsfragen im Antrag nicht objektiv falsch beantwortet habe. Es hob damit eine anderslautende Entscheidung der Vorinstanz auf.
Wie Rechtsanwalt Tobias Strübing von der Kanzlei Wirth – Rechtsanwälte, Rechtsanwälte in PartGmbB berichtet, stellte das OLG bei der Auslegung der Fragen auf den genauen Wortlaut ab. Eine einmalige akute Bronchitis sei demnach nicht anzugeben gewesen, da sich die Frage ausdrücklich auf „wiederholte oder chronische“ Erkrankungen bezogen habe.
Im Antrag nicht nach Vorerkrankungen gefragt
Auch den Vorwurf, der Mann habe seine Skoliose arglistig verschwiegen, wies das Gericht zurück. Obwohl es sich dabei um eine Vorerkrankung handelt, die den Eintritt einer Berufsunfähigkeit wahrscheinlicher machen könne.
In seiner Urteilsbegründung stellte das OLG klar: „Nach bestehenden Vorerkrankungen ist der Kläger in dem Antragsformular der Beklagten nicht gefragt worden […], sondern eben nur nach Untersuchungen, Beratungen oder Behandlungen in den letzten fünf Jahren.“
Da die Skoliose-Diagnose aus dem Jahr 2004 stammte und somit außerhalb dieses Zeitraums lag, sei sie nicht anzugeben gewesen, zumal keine Behandlung oder Beratung diesbezüglich stattgefunden habe.
Auch dass der Mann die Frage nach einem Schwerbehindertenausweis verneinte, beanstandete das Gericht nicht. Die Antwort sei korrekt, da sich die Frage ausdrücklich auf einen vorhandenen Ausweis bezog – nicht auf den Grad der Behinderung. Da ein Schwerbehindertenausweis laut SGB erst ab einem Grad von 50 ausgestellt wird, besaß der Kläger keinen.
Frage zu vorherigen Anträgen bei anderen Versicherern falsch beantwortet
In einem Punkt gab das OLG dem Versicherer jedoch Recht. Der Mann hatte objektiv unzutreffende Angaben zu früheren Anträgen auf Berufsunfähigkeitsversicherungen gemacht. Dabei hatte er verschwiegen, dass er sich bereits erfolglos um Versicherungsschutz bemüht hatte – unter anderem wegen seiner Vorerkrankung.
Diese Umstände wurden vom Versicherer jedoch erst im Prozess – und damit außerhalb der einjährigen Anfechtungsfrist nach § 124 BGB – als Anfechtungsgrund vorgebracht, wie Rechtsanwalt Strübing erklärt. Das OLG stellte klar, dass Anfechtungsgründe bereits in der Anfechtungserklärung selbst oder zumindest innerhalb der Frist benannt werden müssen.
Ein pauschales Verweisen auf alte Arztberichte reiche dafür nicht aus. Da der Versicherer sich erst im Prozess darauf berief, sei der Einwand verfristet gewesen – und könne deshalb keinen Rücktritt vom Vertrag begründen.
Versicherer muss rückwirkend 60.000 Euro zahlen
Das Oberlandesgericht Hamm verurteilte den Berufsunfähigkeitsversicherer zur rückwirkenden Zahlung einer Rente von über 60.000 Euro sowie zur Beitragsbefreiung für den Zeitraum der Berufsunfähigkeit zwischen Sommer 2014 und Ende 2020.
Für die Zeit ab 2021 verneinte das Gericht hingegen eine weitere Leistungspflicht. Der Versicherer könne den Kläger auf seine neue Tätigkeit bei der Stadt verweisen – diese sei mit einer Ausbildung verbunden und stelle nach Auffassung des Gerichts sogar einen beruflichen Aufstieg gegenüber der früheren Tätigkeit dar.
„Das Urteil ist ein starkes Signal für Versicherungsnehmer“, so Strübing. „Wer Gesundheitsfragen klar und im Wortlaut korrekt beantwortet, muss keine spätere nachträgliche Interpretation durch den Versicherer befürchten.“
Die Entscheidung zeige außerdem: Rücktritt und Anfechtung vonseiten des Versicherers seien nur dann wirksam, wenn sie gut begründet und innerhalb der gesetzlichen Fristen nachvollziehbar erklärt werden, ergänzt Strübing.